Herr F. ist ein erwachsener Mann, fast 50jährig, hört gerne lautstark Schlagermusik auf seinem Discman und freut sich immer ausserordentlich über die Nachmittagskaffees (mit min. 300 Stück Zucker); er liebt jede Art von Kuchen oder Süssgebäck, sein Lieblingstier ist die Kuh, besonders die gefleckten mag er gerne. Herr F. hat strahlende, ganz kleine blaugraue Augen und ist meist endlos freundlich und aufgestellt, tägliche Routinen geben ihm Halt und Sicherheit. Herr F. hat eine kognitive Einschränkung und lebt in einem Heim. In der Gesellschaft, in welcher wir leben, bezeichnen wir Herr F. als einen Menschen mit einer Behinderung. Er ist bezüglich den Anforderungen, welche wir an die Leistungsfähigkeit stellen, wohl be-hindert, diese zu erfüllen. Herr F. bezieht eine volle IV-Rente sowie Zusatzleistungen und lebt seit vielen Jahren im besagten Heim. Er geht einer Tagesbeschäftigung in einer geschützten Werkstätte nach und gestaltet so, wohl mehr oder weniger glücklich, seinen Alltag. Aus der Kindheit von Herr F. weiss ich nicht viel und was ich weiss, ist nichts Schönes. Sprechen tut er darüber nicht.
Seit zwei Jahren vertrete ich Herr F. Berufsbeiständin im Auftrag der KESB (Kindes- und Erwachsenschutzbehörde). Letzte Woche rief mich die Betreuerin der Institution an, in welcher Herr F. lebt. Sie schilderte mir, dass Herr F. sei seit Tagen ausser sich sei, kaum schlafen könne und sich nur schwer beruhigen lasse. Die auswärtigen Besuche und das anstehende Frühlingslager musste auf Grund von CoVid19 abgesagt werden, was ihm offenbar schwer zusetze. Sie bat mich, mit ihm zu sprechen. Die jährlichen Ferienlager sind Herr F. sehr, sehr wichtig, er erhält keinen Besuch von seiner Familie oder Angehörigen und die gemeinschaftlichen Aktivitäten des Heims sind somit sein sozialer Mittelpunkt.
Herr F. war furchtbar aufgelöst und liess sich kaum beruhigen. Im Verlaufe des Gesprächs merkte ich, dass er das Gefühl hatte, bestraft zu werden, deshalb jetzt "Hausarrest" zu haben und darum nicht ins Lager gehen darf. Hausarrest, Bestrafung und eingeschlossen zu sein schien im wohl bekannt vorzukommen… Nach einer Weile schilderte er mir, nach wie vor unter Tränen, dass er sich jeweils beim Kaffeeautomaten mehr Kaffee als eigentlich erlaubt wäre, herauslässt. Offenbar war er in grosser Sorge, dass dieser "Beschiss" jetzt die gesamte CoVid19 Situation ausgelöst hatte und versprach mir hoch und heilig das nie, nie wieder zu machen. Mit grosser Mühe und Not konnte ich Herr F. versichern, dass er nichts wirklich Schlimmes getan hätte und er, trotz diesem «Beschiss am Kaffeeautomaten», meiner Meinung nach ein toller Kerl sei und dass das Lager jetzt nicht stattfinden könne, nichts mit dem zu tun habe. Ob er das wirklich erfassen konnte, das weiss ich nicht.
Was ich aber weiss, ist, dass das Gespräch in mir viele Gedanken auslöste. Herr F. machte sich offenbar um seine Handlungen und die Reaktionen darauf viele Gedanken. Aber was ist mit mir? Mache ich mir um mein Verhalten genauso viele Gedanken?
Karma bedeutet Reaktion auf Aktion. Jede Aktion löst eine Reaktion aus. Herr F. hat das begriffen und das obwohl sein Intellekt nicht dem meinem entspricht. Ich halte inne und danke Herr F. dafür, dass er mich erinnert hat, über mein Verhalten gründlicher nachzudenken. Es fällt mir leicht, im Alltag dieser Konfrontation zu entgehen. Ich habe das Privileg und die Möglichkeit, mein Leben mit sehr viel Aktivität und Stimulation zu gestalten. Jetzt, durch CoVid 19, ist diese Aktivität und somit auch die Stimulation aller gewünschten Sinne nur eingeschränkt möglich. Also beschliesse ich, das zu machen, was ich als Kind machen musste, wenn ich über mein Verhalten nachdenken musste. Ich setzte mich auf meinen Stuhl (als Kind war es die stille Treppe) und dachte nach. Ich muss zugeben, es fiel mir ganz und gar nicht leicht, mich damit zu konfrontieren, was ich wohl alles getan und gemacht habe, worauf ich nicht gerade stolz bin.
Ich bin eine klassische "schwarz/weiss Denkerin". Erachte ich etwas als unfair, schlecht oder nicht mit meinem Gedankengut übereinstimmend, verurteile ich das schnell und nahezu kompromisslos. Auch eher sehr temperamentvoll kann ich mich stundenlang darüber exaltieren und auslassen. Ich verstecke mich dabei gerne hinter meiner sozialen und ethisch "korrekten" Einstellung oder einer witzigen Schilderung. Trotzdem schöpfe ich so eine negative Aktion, womit wir wieder bei Action und Reaktion wären… Ich beschliesse, mir ein Beispiel an Herr F. zu nehmen und gelobte Besserung:
Ich nehme mir vor, mich künftig mehr auf genau diese Aktion zu achten und zwar bevor ich in die Luft gehe. Ich will versuchen, meinen Beitrag zu einer besseren Reaktion in dieser Gesellschaft zu geben. Eine vegane Ernährung, ökologisch zu entsorgen, wenig Unnötiges zu kaufen, mich sozial und freiwillig zu engagieren, das fällt mir leicht, Verständnis und Toleranz für andere Denk-und Funktionsweisen zu zeigen, das hingegen nicht. Und genau da beginnt doch Veränderung, oder? Dort wo es schwer fällt und unangenehm ist.
Guten Mutes begebe ich mich aus dem Haus, stehe an der Ampel und werde beinahe von einem Velofahrer umgefahren. Fast automatisch entwischt mir ein "gahtzeigentlichnogopfetellihäschkeiaugeimchopf", aber das wäre genau eine negative Aktion, die dann, gemäss der Theorie des Karmas, eine entsprechende Reaktion auslösen würde. Ich halte mich also zurück, beisse auf die Zähne, versuche zu lächeln und stelle mir vor, dass der Velofahrer Pflegefachmann und gerade auf dem Weg in Spital ist oder ein gestresster Vater, der ganz rasch für seine tobenden sieben Kinder einkaufen muss, bevor der Laden schliesst oder, noch besser, ein Stripper auf dem Weg zu einem Polterabend. Ich lächle. Die Frau auf der anderen Seite der Strasse auch. Eine Reaktion auf Aktion?
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